Warum Schulpraktische Studien als pädagogische Kasuistik? Michael Tiedtke

In einer Konsultation zur Überarbeitung des Praktikumsberichts erklärt eine L3-Studentin, sie habe  die Konzeption des Seminars nicht verstanden, fand es „zu theoretisch“ und „langweilig“. In anderen Vorbereitungsveranstaltungen habe man Unterricht simuliert und sich dabei per Video aufgezeichnet. So konnte man wenigstens mal sehen, wie man sich in der Situation verhält.

Diese Auffassung und der sie generierende Habitus sind nicht allein durch den Einwand zu erschüttern, daß Erlebnisse und Anschauungen allein  nicht erhellend sind, wenn sie nicht zu einem Bewußtsein für die „Handlungsprobleme des Lehrers“ führen. Begnügt sich das Seminar mit dem  Austausch unmittelbaren Erlebens, so fördert das die Illusion, man komme schon irgendwie durch, jedoch ohne zu verstehen, was man als Lehrender tut. Dagegen hilft nur Kasuistik als methodisch kontrollierte Analyse von Unterrichtsmaterial, seien es Aufgabenblätter, Schülerarbeiten, Unterrichtsszenen oder Unterrichtstranskripte.

ABER: Die studentischen Versuche sind meistens unbefriedigend: Statt präziser Analysen findet man wertende Paraphrasen der Sequenzen, ungedeckte Spekulationen über Motive der Akteure (vor allem des Lehrers) und negative Effekte bei den Schülern. Schlimmer noch sind unausrottbare Versuche zur Normalisierung und heilenden Rechtfertigung der offenbaren Probleme, die sich in den Transkripten zeigen.

Daraus ergibt sich die Frage, was die SPS-Seminare leisten müssen, um die Studierenden in die Lage zu versetzen, eigenständige Fallanalysen durchzuführen und zu schreiben.

  • Voraussetzung für die Fallanlysen ist ein hinreichendes Problembewußtsein. Man muß an das Material eine „Frage“ stellen, damit man am Ende eine „Antwort“ bekommt. Was der Fall ist, bestimme ich mit meinem Forschungsinteresse. Trete ich an ein Material ohne (Erkenntnis-)Interesse heran, dann erschließt sich auch keine „Fallstruktur“. In der Forschung versteht sich von selbst, daß am Anfang eine Frage/ ein Problem stehen muß, auf die eine Antwort/ für das eine Lösung gesucht wird. Für den Fall des SPS kann es nicht um eine solche Forschungsfrage gehen, sondern um die (Selbst-)Aufklärung der Praktikanten über die Probleme ihrer künftigen Berufstätigkeit. Professionelle Vorbereitung auf den Lehrberuf erfordert unabweisbar, sich in der Ausbildung mit den objektiven Handlungsproblemen des Lehrers (Diederich/Lingelbach) zu beschäftigen bzw. die der schulpädagogischen Praxis zugrunde liegenden unaufhebbaren Problemkonstellationen zu durchdenken und zu verstehen.
  • Wozu soll das gut sein? Versteht man Pädagogik nicht als (im engeren Sinne empirische) „Erfahrungswissenschaft“ sondern als „Handlungswissenschaft“, dann ist ihr Ziel nicht die Erzeugung neuen Wissens. Sie hat ihre Aufgabe in der Reflexion einer Praxis zum Zwecke der Ausbildung für diese Praxis. Diese Praxis macht sie sich mit Hilfe von Dokumenten, letztlich von „Protokollen“ dieser Praxis zum Gegenstand. Wissenschaftlich ist die Pädagogik insofern, als sie es sich zur Aufgabe macht, einerseits die Tradition pädagogischen Denkens „aufzuheben“ (im Hegelschen dreifachen Sinne [1]). Indem sich die Pädagogik hierbei an der Philosophie orientiert, ist sie in guter „geisteswissenschaftlicher“ Nachbarschaft, denn auch die Philosophie erzeugt kein neues Wissen im Sinne der empirischen Erfahrungswissenschaften. Statt dessen pflegt sie systematisch das Gedächtnis darüber, was in den letzten 3.000 Jahren über die Welt gedacht worden ist. Das tut sie nicht wie ein staubwedelnder Antiquar, sondern durch immer neue Interpretation der überkommenen Texte, was zu neuen Texten führt und so fort. Die Nähe der Pädagogik zur Philosophie leuchtet nicht nur genealogisch ein, sondern auch systematisch. Immerhin sind Grundbegriffe wie Erziehung, Bildung, Entwicklung und Lernen ebenso wenig „empirische“ Kategorien wie die allgemeine „Tugend“ oder das „Wahre“, „Schöne“ und „Gute“, dem (immer noch) die Schule (allen voran das Gymnasium) dienen soll. Will die wissenschaftliche Pädagogik ihre oben genannte Aufgabe einer Reflexion der pädagogischen Praxis erfüllen, braucht sie dafür Begriffe. Das Geschäft der Pädagogik als Wissenschaft besteht deshalb vor allem darin, immer neu ihre („heimischen“) Begriffe zu klären. Immer neu aus zwei Gründen. Einmal muß der erreichte Stand des pädagogischen Denkens von Generation zu Generation tradiert werden. Zum anderen werden ihre Grundbegriffe auch von ihren Nachbarwissenschaften interpretiert und in eigener Terminologie re-formuliert. Das kann die Pädagogik nicht ignorieren, will sie den Kontakt zur wissenschaftlichen Welt über die Fachgrenzen hinweg halten, also den Anschluß nicht verlieren. Wie sich Erich Weniger das Verhältnis von „Theorie und Praxis in der Pädagogik“ vorstellte, ist selbst nach 80 Jahren noch lesenswert.
  • Fallanalysen führen fast immer zu der ernüchternden Einsicht in das Mißlingen der pädagogischen Praxis. Darauf reagieren Studierende notorisch mit Enttäuschung oder mit der Frage, wie man es denn besser machen könnte. Oftmals werden die „negativen“ Resultate der Analyse als „Lehrerschelte“, als Ideologiekritik oder als destruktive Enthüllung des Mißlingens mißverstanden. Diese Reaktionen sind Hinweise auf den „Leidensdruck“, der mit der existenziellen Irritation verbunden ist, die durch die Fallanalysen erzeugt wird. Dem sollte sich im Interesse der professionellen Ausbildung kein Lehramtsstudent entziehen dürfen. Ähnlich wie künftige Psychoanalytiker sich einer langwierigen und teuren „Lehranalyse“ unterziehen müssen, sollten Lehramtsstudierende in einem Pädagogicum eigene Fallanalysen ausarbeiten, weil nur auf diese Weise ihre impliziten (in 13 Jahren schulischer Sozialisation erworbenen) naturwüchsigen pädagogischen Deutungsmuster (d.h. habitualisierte Normalitätserwartungen) irritiert werden können. Der hierin liegende Anstoß zur kognitiven Umstrukturierung (Lernen?) ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausprägung eines professionellen pädagogischen Habitus – jenseits der rationalistischen Hoffnungen, daß Erkenntnis notwendig zu einem bestimmten (gar besseren) Handeln führt. Fallanalysen ergeben keine Rezepte und Prinzipien, an denen sich künftiges Handeln positiv orientieren könnte. Sie eröffnen aber den Blick für den Möglichkeitsraum und die Strukturlogik (schul-) pädagogischer Praxis. Sie fördern die methodische Reflexion auf das eigene Handeln. Insofern nimmt die pädagogische Kasuistik wie sie unser SPS-Konzept prägt, die Rede vom Lehrer als der wichtigsten Bedingung des Unterrichts ernst. Sie wiegt die Novizen nicht mit Rollenspielen und Simulationen in der Gewißheit, daß man schon irgendwie durchkommt. Statt dessen bietet sie ihm die Methode und das begriffliche Instrumentarium, sich selbst und die „Tabus über dem Lehrberuf“ (Adorno) besser zu verstehen.

Frankfurt, Januar 2006


[1] Aufhebung als Beseitigung (negatio); als Bewahrung (conservatio); als Hinaufheben auf eine höhere Stufe (elevatio) zusammengefaßt im dialektischen Prinzip von der „Negation der Negation“ (Hegel, Werke, Bd. 5 (Wissenschaft der Logik I), 113 f., auch Bd. 3 (Phänomenologie des Geistes), 94 (dort im Kontext von »Wahrnehmung«).